Der ursprüngliche Shiba und der Japanische Wolf 

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top   Ursprüngliche Rassen 

Jeder, der sich ein wenig für den Shiba, den Akita oder einen der anderen japanischen Hunde interessiert, hat davon gehört, daß Vertreter dieser Rassen zu den "ursprünglichen Hunden" gezählt werden. Doch was ist eigentlich unter ursprünglichen Rassen zu verstehen?

Gemäß der Klassifikation der FCI gehören zu den ursprünglichen Hunden alle nordischen Hunde, die europäischen und asiatischen Spitze, einige Windhund-Rassen und der Thai Ridgeback. Sie sind in der Gruppe 5 in acht Sektionen zusammengefaßt. Die Sektion 5 dieser Gruppe 5 mit dem Titel "Asiatische Spitze und verwandte Rassen" umfaßt den Chow-Chow und Eurasier sowie die sieben japanischen Rassen Akita, Hokkaido, Japanischer Spitz, Kai, Kishu, Shiba und Shikoku, schließlich den Korea Jindo Dog. Als "vorläufig aufgenommen" gilt in dieser Gruppe 5 der Taiwan Dog.

Nicht von der FCI anerkannt, aber gleichfalls zu den ursprünglichen Hunden gerechnet werden der australische Dingo, der Neuguinea Dingo (auch New Guinea Singing Dog oder kurz NGSD genannt) und der Carolina Dog ("American Dingo"). Der australische Hundezüchterverband ANKC hat den Dingo 1998 in seine Rassestandards mit aufgenommen. Der Neuguinea-Dingo wird seit 1996 in den USA als eigenständige Rasse geführt und der Carolina Dog wird von fünf verschiedenen Verbänden als eigenständige Rasse anerkannt.

Der Anblick dieser Hunde ist reizvoll und macht neugierig. Gibt es gemeinsame Merkmale, die es rechtfertigen, sie unter einem bestimmten Begriff in einer Gruppe zusammenzufassen? Die Bezeichnung "ursprüngliche Hunde" signalisiert etwas "Altehrwürdiges", "Echtes", "Unbeeinflußtes", "Autochthones" – positive Merkmale jedenfalls, über die man gerne genauer Bescheid wüßte. Sucht man jedoch nach näheren Erklärungen oder gemeinsamen Kriterien speziell für die ursprünglichen japanischen Rassen, wird man enttäuscht. Die FCI gibt überhaupt keine Kriterien für ihre Klassifikation an die Hand und sofern sich anderswo Charakterisierungen wie etwa "unabhängige und robuste Hunde" finden, bleiben sie vage und unverbindlich. Und die schlichte Antwort, die ursprünglichen japanischen Hunde stammten eben aus Japan, reicht schon gar nicht aus. Ist doch zum Beispiel der Japanische Spitz ein Import aus China und Kanada aus den 20-er Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Die Rede von den "ursprünglichen Hunden" kann sich sinnvoll nur auf die lange Entwicklungsgeschichte des Hundes und auf seine Vorfahren beziehen. Der älteste Vorfahr unseres Hundes (Canis familiaris) ist erwiesenermaßen der Wolf (Canis lupus). Wenn man also nach dem "Ursprünglichen" heutiger Hunde sucht, wird man auf den Wolf (oder das "Wölfische") stoßen. Im Fall der japanischen Hunde – so könnte man meinen – kommt dafür der Japanische Wolf in Frage.

Machen wir uns also auf die Suche und werfen einen Blick zurück! Es wird eine lange Reise werden, wir werden eine versunkene Landschaft streifen und gelegentlich einen Irrweg passieren. Moderne Methoden der Molekularbiologie werden uns auf dieser Zeitreise mit zum Teil neuen Erkenntnissen den Weg weisen. Am Ende werden wir dann hoffentlich eine bessere Vorstellung davon haben, was es heißt, der Shiba gehöre zu den ursprünglichen Hunderassen.

top   Ein Blick zurück auf die Ursprünge 

Seit dem 18. Jahrhundert wurde in Gelehrtenkreisen darüber debattiert, wer der Stammvater, der "Urhund" unserer heutigen Hunde gewesen sei. Für diesen Urhund wurden alle möglichen Kandidaten ins Feld geführt, vom Wolf über den Schakal bis zum Kojoten, selbst der Fuchs wurde in Betracht gezogen. Auch nach dem Ursprungsort dieses sagenhaften Hundes wurde eifrig geforscht, man vermutete ihn in Eurasien, aber auch in Südamerika. Ein gewisser Theophil Studer sammelte jahrelang "Beweise" dafür, daß der Urhund aus der Schweiz stammen müsse (Prof. Studer war übrigens Schweizer).

Neue gentechnische Methoden

Diese Diskussion ging erst zu Ende, als dank neuer Methoden der Molekularbiologie und Gentechnik die Hypothesen über die Entstehung des Hundes auf eine sachliche und nachprüfbare Basis gestellt werden konnten. In der Forschung werden seit den 90-er Jahren vor allem zwei Methoden eingesetzt, die wir hier kurz vorstellen möchten. Es handelt sich um 1) die Mikrosatelliten-Analyse und 2) die mitochondriale DNA-Analyse.

Die Mikrosatelliten-Analyse untersucht Variationen in der Erbsubstanz innerhalb des Zellkerns (Nucleus), d.h. auf den Chromosomen. Dabei werden bestimmte Abschnitte auf dem DNA-Strang, die sich mehrfach wiederholen und je nach Individuum eine unterschiedliche Länge aufweisen, analysiert. Diese Abschnitte werden als Mikrosatelliten bezeichnet. Sie liegen in sog. nicht-kodierenden Bereichen der Gene ("non-coding regions").

Die Mikrosatelliten-Analyse ist vor allem eine Methode zur Erkennung der genetischen Variabilität, d.h. der Fähigkeit einer gesamten Population, Individuen mit unterschiedlichem Erbgut hervorzubringen.

Die mitochondriale DNA-Analyse (kurz mtDNA) untersucht Variationen in der Erbsubstanz außerhalb des Zellkerns, nämlich in den Mitochondrien. Mitochondrien sind sog. Organellen ("Körperchen"), welche der Zelle zur Erzeugung ihrer lebensnotwendigen Energie (Stoffwechselfunktion) dienen. Mitochondriale DNA wird nur von der Mutter vererbt, daher unterliegen Veränderungen der mitochondrialen DNA einer Population nicht den klassischen Erbgesetzen. Auch diese Methode untersucht vorwiegend nicht-kodierende Bereiche, die Displacement-Loop (kurz D-Loop) oder Kontrollregion genannt werden.

Die mtDNA-Analyse ist die Standardmethode, um Verschiedenheiten oder Ähnlichkeiten (die "genetische Distanz") sowohl zwischen verschiedenen Rassen als auch innerhalb einer Rasse zu untersuchen, da sich Unterschiede erst nach vergleichsweise vielen Generationen aufgrund spontaner Mutationen einstellen.

Mit Hilfe eines Verfahrens, das "molekulare Uhr" genannt wird, können schließlich die gewonnenen Ergebnisse zeitlich eingeordnet werden. So zeigt diese Uhr z.B. an, wie viele Jahre verstrichen sind, seitdem sich die zwei Spezies von einem gemeinsamen Vorfahren entfernten.

Neue Erkenntnisse

Ausgerüstet mit den Methoden der DNA-Analyse haben Forschergruppen in der ganzen Welt die lange Entwicklungsgeschichte von Wolf und Hund aufgehellt. War man bis dahin auf morphologische Messungen, taxonomische Einordnungen und viele Hypothesen angewiesen, so konnte man jetzt Abhängigkeiten und Divergenzen viel direkter nachweisen. Auf diese Weise konnten manche bis dahin gültigen Annahmen revidiert oder präzisiert werden.

Eine Gruppe von Forschern um Carles Vila von der University of California in Los Angeles steckte den großen Rahmen ab. [1] Nach ihren Ergebnissen spaltete sich die Familie der Caniden (der Hundartigen) vor ca. 50 Millionen Jahren von anderen Familien der Carnivoren (Raubtiere) ab. Die heute noch vorhandenen Caniden sind genetisch eng verwandt und gehen auf einen gemeinsamen Vorfahren von vor 10 Millionen Jahren zurück. Vor mehr als 100.000 Jahren entwickelten sich dann aus den Caniden, d.h. den Wölfen, die Hunde. Während der langen Zeit bis zum Beginn der Domestikation kam es immer wieder zu Vermischungen zwischen Wölfen und Hunden. [2]

Eine andere Forschergruppe um Peter Savolainen vom Royal Institute of Technology (KTH) in Stockholm konzentrierte sich in einer Untersuchung, die repräsentativ für alle heute existierenden Rassen angelegt war, auf den Ursprung der Domestikation des Hundes. [3] Nach ihren Ergebnissen haben alle Haushunde ihren gemeinsamen Ursprung vor ca. 15.000 Jahren in Ost-Asien. Savolainen und Kollegen vermuten aufgrund ihrer Analysen letztlich einen einzigen gemeinsamen Gen-Pool für alle Hunde weltweit.

Verschiedene Forschergruppen in Korea und Japan beleuchteten sodann den Ursprung des Haushundes in Ost-Asien und untersuchten speziell die japanischen Hunde. Zunächst legte eine Gruppe um Yuichi Tanabe aus Japan den Grundstein mit einer groß angelegten biochemisch-genetischen Studie über die Herkunft der japanischen Hunde. [4] Nach den Ergebnissen von Prof. Tanabe stammen die heutigen japanischen Hunderassen von Hunden ab, die am Ende der Eiszeit (Pleistozän oder Diluvium) in zwei Schüben nach Japan kamen. Sie sind zum einen Nachfahren von Hunden, die zuerst vor etwa 10.000 Jahren mit dem Jomon-Volk von Südost-Asien nach Japan gelangten. Zum andern stammen sie von Hunden ab, die in einer zweiten, kleineren Welle vor 1.700 bis 2.300 Jahren mit dem Yayoi-Volk über die koreanische Halbinsel einwanderten.

Die Studie von Tanabe und Kollegen ist wiederholt zum Ausgangspunkt von weiteren Analysen genommen worden, die die japanischen Hunde näher unter die Lupe nahmen. So hat eine Gruppe um Naohiko Okumura [5] nachgewiesen, daß sich die japanischen Hunde durch Vermischungen mit Hunden sowohl innerhalb (intrabreed) einer Rasse als auch durch Vermischung mit Hunden aus anderen Rassen (interbreed) entwickelt haben. Diese Vermischung war derart intensiv, daß sich die einzelnen japanischen Hunderassen genetisch in der Analyse nicht mehr klar trennen ließen.

Eine koreanisch-japanische Forschergruppe [6] hat die Ergebnisse von Tanabe und Okumura noch weiter präzisiert. Danach haben die heutigen japanischen Hunde eine so große genetische Variabilität, daß man von mehreren genetisch verschiedenen Vorfahren ausgehen muß. [7]

Alle Untersuchungen sind sich darin einig, daß als Stammvater des Hundes der sibirische Grauwolf (Canis lupus, siehe Bild) anzusehen ist. Eine weitere japanische Studie ist noch einmal gezielt dieser Frage nachgegangen. Die Forscher präsentieren als Ergebnis "den direkten molekularen Beweis, daß der Vorfahr des Haushundes der Wolf ist". [8]

top   Der Verlust des Wölfischen 

Aus der Tatsache, daß alle unsere heutigen Hunde genetisch vom Wolf abstammen, folgt natürlich nicht, daß sie auch alle – vom winzigen Chihuahua bis zum riesigen Tosa Inu – ein gleichgroßes wölfisches Erbgut in sich tragen. Durch Domestikation und vor allem durch züchterische Maßnahmen griff der Mensch tief in den Genhaushalt der verschiedenen Rassen ein. Einige Merkmale (innerliche wie äußerliche) wurden verstärkt oder zum Verschwinden gebracht, mitunter wurden sogar Erbkrankheiten wie Haarlosigkeit zum Rassemerkmal erhoben, zum Beispiel bei den Nackthunden.

Der große Wolfsforscher Eberhard Trumler hat darauf hingewiesen, daß unsere modernen Hunde die "guten" Seiten des Wolfs erben durften, vor allem seine sozialen Fähigkeiten, seinen "Familiensinn". Dank dieser vom Wolf stammenden Fähigkeiten war der Hund für ein Zusammenleben mit dem Menschen besonders gut geeignet und daher "durften unsere Hunde eben in dieser Hinsicht Wölfe bleiben". [9] Der Preis für diese hochgezüchtete Anpassungsfähigkeit und Sozialverträglichkeit des Hundes ist der Verlust des Ungezähmten, des Wilden, kurz des "Wölfischen", wie wir es nennen möchten. Dieser Verlust ist in den einzelnen Rassen unterschiedlich hoch, in neueren Rassen, bei denen der Mensch durch Zucht massiver in die Erbsubstanz eingriff, natürlich höher als in älteren, "ursprünglichen" Rassen wie den Spitzen, zu denen auch die japanischen Hunde gehören.

Im Jahr 2004 hat eine großangelegte Mikrosatelliten-Untersuchung über die Genstruktur des Haushundes von einer Forschergruppe der University of Washington ein Ergebnis erbracht, das selbst die Fachleute überrascht hat. [10] In dieser Studie wurden repräsentativ für alle Hunderassen der Welt 414 Hunde aus 85 Rassen auf ihre genetische Nähe zum Grauwolf hin analysiert und anschließend in verschiedenen Gruppen (clusters) zusammengefaßt. Dabei schälte sich eine Gruppe von Rassen heraus, die eine hohe genetische Verwandtschaft mit dem Wolf aufwiesen. Zu dieser Gruppe gehört auch der Shiba Inu, der in der genetischen Nähe zum Wolf an zweiter Stelle hinter dem chinesischen Shar-Pei rangiert! Die folgende Abbildung aus der Studie zeigt alle 9 Rassen dieser "Wolfsgruppe" anhand eines Baums, der die unterschiedliche Nähe zum Wolf deutlich macht. Alle anderen Rassen außerhalb dieser Gruppe weisen nur noch eine unspezifische genetische Verwandtschaft zum Wolf auf.

Mehr oder weniger haben alle heutigen Hunde Erbgut von ihren wölfischen Vorfahren in sich. Im Falle der mit den japanischen Rassen eng verwandten koreanischen Hunde (Jindo, Sapsaree, Chejudo) vermuten die Forscher den Einfluß von mindestens zwei ostasiatischen Wolfspopulationen. Es ist also naheliegend zu fragen, ob nicht auch der Japanische Wolf seinen wölfischen Anteil bei den japanischen Hunden hinterlassen hat. Unsere Frage nach dem Ursprünglichen der japanischen Rassen schließt den Japanischen Wolf ein. Was wissen wir über ihn?

top   Der Japanische Wolf 

Ursprung in einer versunkenen Landschaft

Die Vorfahren der japanischen Hunde gelangten zu einer Zeit nach Japan, als die koreanische Halbinsel noch mit den japanischen Inseln verbunden war und eine einzige große Halbinsel bildete. Die rote Umrandung auf der Karte markiert die Landschaft, die später im Meer versank. Auf dieser riesigen Koreanisch-Japanischen Halbinsel hatten sich bereits drei unterschiedliche Wolfsarten angesiedelt:

Der Japanische Wolf (Canis lupus hodophylax, auch hodophilax geschrieben), der auf den heutigen Inseln Honshu, Shikoku und Kyushu lebte. In Japan wird der Japanische Wolf (Nihon-okami) auch Honshu Wolf genannt.
Der Hokkaido Wolf (Canis lupus hattai), der auf den heutigen Inseln Hokkaido, Sachalin, der Halbinsel Kamschatka und den südlichen Kurilen-Inseln lebte. Er wird auch als Ezo Wolf (Ezo-okami) bezeichnet. Der Hokkaido Wolf war etwas größer als der Honshu Wolf.
Der Koreanische Wolf (Canis lupus coreanus) auf der Koreanischen Halbinsel, den es heute noch gibt.

Alle drei Wolfsarten stammten vom sibirischen Grauwolf ab, der von Eurasien über die arktischen Regionen bis nach Nord-Amerika verbreitet war. [11] Umstritten ist allerdings, wann sich die Abspaltung vom Grauwolf vollzog.

Der Wolf in der Kultur Japans

Der Wolf ist vor allem in den ländlichen Regionen und den Bergen Japans allgegenwärtig. [12] Das japanische Wort für Wolf (okami) ist in vielen Ortsnamen zu finden, z.B. Okamitaira (Wolfsplateau), Okamizawa (Wolfssumpf) oder Okami'iwa (Wolfsfelsen). Der Wolf wird alljährlich in Zeremonien geehrt und ist Bestandteil vieler Shinto-Schreine, etwa des für die Japaner besonders bedeutsamen Mitsumine Jinja-Schreins. Man findet den Wolf ferner in zahlreichen Kunstwerken, Bildern, Statuen und Talismanen wieder.

Ganz anders als der "böse Wolf" der europäischen Märchen und Geschichten wurde der Wolf in Japan als ein "gutes Tier" (ekiju) angesehen. In den Wolfslegenden (okuri-okami) tritt er als Beschützer und Helfer der Armen und Verletzten auf oder warnt die Menschen vor drohenden Naturkatastrophen. Vor allem galt er als "Hüter des Weges" (das ist auch die wörtliche Bedeutung seines zoologischen (griechischen) Namens "hodophylax"), der die Wanderer in den Bergwäldern beschützt. So handelt eine bekannte Geschichte von einem blinden Flötenspieler, der sich in den Bergen verirrt hatte und – wie er meint – von einem Jäger wieder zurückgeleitet wird. Erst als sie sich dem Dorf nähern, bemerkt er, daß sein Führer ein Wolf ist.

Der Wolf war für die Japaner nicht einfach nur ein Tier, sondern ein Wesen mit übersinnlichen Fähigkeiten, ein Berggeist (yama no kami), der es gut mit den Menschen meinte. Wenn im Gegenzug die Menschen ihn nicht respektierten, konnte er auch böse sein. Nach John Knight, einem der besten Kenner des Japanischen Wolfs, spiegelt sich im Verhältnis der Japaner zum Wolf ihr Verhältnis zur Natur insgesamt wieder. Und so wie auch die Natur dem Menschen mitunter bedrohlich erscheint, ebenso wurde der Wolf zu bestimmten Zeiten als Bedrohung empfunden und entsprechend verfolgt. Erst heute, nachdem der Wolf niemanden mehr bedroht, sieht man in ihm ein Stück verlorengegangener Natur.

Ist der Japanische Wolf überhaupt ein Wolf?

Der Japanische Wolf war grauhaarig und bemerkenswert klein, in der Kopfrumpflänge maß er etwa 88 cm, während der sibirische Grauwolf eine Körperlänge von 140 cm erreicht. Sein Schweif war etwa 30 cm lang. Dieser Größenunterschied zum europäischen Wolf ist schon Philipp Franz von Siebold aufgefallen, von dem die einzige Beschreibung eines außer-japanischen Augenzeugen stammt. Siebold diente als Arzt in der holländischen Ostasien-Arme und hielt sich von 1823 bis 1829 in der Bucht von Nagasaki auf. In seiner "Fauna Japonica" (1842 in Leiden in Holland auf französisch erschienen) beschreibt er den Wolf aus den Bergen und Wäldern, den die Japaner Jamainu, d.h. "Berghund" nannten (der andere japanische Name "Shamainu" ist nur eine Verballhornung von Jamainu). [13] Siebold geht sorgfältig auf die Maße der einzelnen Körperpartien des Japanischen Wolfs ein und kommt zu dem Schluß, daß er wegen seiner geringen Größe nicht mit dem europäischen Wolf verwandt sein kann. Siebold hält ihn eher für einen entfernten Verwandten des nordamerikanischen Wolfes. Die folgende Illustration ist seiner Beschreibung in der "Fauna Japonica" entnommen.

Ausgehend von der auffallend kleinen Statur ist in Japan in jüngster Zeit eine Kontroverse über die Abstammung des Japanischen Wolfes entstanden. [14] Dabei stehen sich zwei Positionen konträr gegenüber. Die eine Position beharrt darauf, daß der japanische Wolf eine Unterart des Grauwolfes sei und erklärt die geringe Körpergröße mit ökologischen Veränderungen im vorhistorischen Japan, in deren Folge größere Beutetiere ausstarben und der Wolf sich dem evolutionär anpassen mußte und gleichsam mitschrumpfte. Die andere Position meint dagegen, daß der eingewanderte sibirische Wolf sich bereits mit den Vorfahren der japanischen Hunden, den asiatischen Hunden, vermischt hatte – eine These, die sich mit neueren Erkenntnissen der DNA-Forschung deckt [15]. Die wörtliche Bedeutung von Jamainu treffe demnach den wahren Sachverhalt, der Wolf sei tatsächlich nur ein "Berghund". Wenn dies zutrifft, dann war der Jamainu, den Siebold beschreibt, kein Wolf.

Der Japanische Hund (Canis familiaris japonicus)

Wenn der Jamainu oder Japanische Wolf gar kein Wolf war, kann er nur ein Hund gewesen sein, ein Canis familiaris japonicus oder Nippon'inu, wie die Bezeichnung auf japanisch lautet. Siebold hat als erster auch den japanischen Hund beschrieben, ausführlicher sogar als den Wolf. Es lohnt sich, einen Blick auf seine Beschreibung des japanischen Hundes in seiner "Fauna Japonica" zu werfen.

Siebold beschreibt den japanischen Hund in dem Kapitel "Les Chiens" im Abschnitt "Canis familiaris japonicus" (Fauna Japonica, S. 36ff). Er unterscheidet drei Arten von Hunden, nämlich den

Jagdhund:Kari-inu, auch No-inu genannt.
Straßenhund:Bawa-inu, auch Kai-inu genannt, und Muku-inu. Die Straßenhunde sind für Siebold aus China, Indien und auch aus Europa nach Japan importierte Hunde, die sich mit dem einheimischen Jagdhund vermischt haben. Siebold macht weder zum Jagdhund noch zum Straßenhund irgendwelche Größenangaben.
Haushund:Makura tsin (ein Schoßhund), Suiken tsin und Sjok-ken (ein Hund zum Verzehr). Der Tsin (Chin) wurde nach Siebold aus China (Macao) importiert, wohin ihn die Portugiesen gebracht hatten.

Außerdem erwähnt Siebold noch den versteckt lebenden Ookame, der als eine Spezies zwischen dem Jagdhund und dem Jamainu oder Wolf angesehen wurde. Er soll ein geschickter Jäger sowohl auf dem Land als auch im Wasser gewesen sein. Der Unterschied des Ookame zum Jamainu wird leider nicht weiter ausgeführt, Siebold bemerkt nur, daß die Japaner das Fleisch des Ookame als Mahlzeit schätzten, während sie den Verzehr des Jamainu für gesundheitsschädlich hielten.

Während sich Siebold bei der Beschreibung des Japanischen Wolfs auf das Äußere beschränkt, geht er bei den japanischen Hunden auch auf ihre Lebensweise und Geschichte ein. Er hält den Jagdhund für einen Nachfahren sibirischer Hunde, der die Jäger und Fischer bei ihren Jagdzügen quer durch das Land begleitet. Die Straßenhunde dagegen beschreibt er als hybride Jagdhunde, die in Städten und am Wasser gelegenen Dörfern leben, halbwild zwar, jedoch stets in der Nähe des Menschen. Die Haushunde schließlich sind für ihn kaum der Beschreibung wert. Insgesamt zeichnet Siebold ein wenig schmeichelhaftes Bild des japanischen Hundes. Den Straßenhund und den Haushund hält er für bastardiert und verhätschelt, und auch den Jagdhund sieht er auf dem Weg der Degeneration.

Bei der Suche nach einem Stammvater für unseren heutigen Shiba, ist auch der Canis familiaris japonicus ins Spiel gebracht worden. In ihrem verdienstvollen Buch "The Complete Shiba Inu" beruft sich Maureen Atkinson auf (namenlose) japanische Forscher, die in dem "reinrassigen" ("pure-bred") Canis familiaris japonicus den direkten Vorfahren des heutigen Shibas sehen. [16] Nach der Beschreibung von Siebold, Temminck und Schlegel, die anerkannte Zoologen waren, war der Canis familiaris japonicus weder eine eigene Rasse, noch war er besonders "reinblütig". Er ist als adliger Ahnherr kaum geeignet.

Interessant an Siebolds Beschreibung ist aber weniger der etwas abschätzige Ton, mit dem er den japanischen Hund beschreibt, als vielmehr das Bild, das er von seiner Lebensweise zeichnet. Besonders widmet er sich den Straßenhunden, dem Bawa-inu und Muku-inu. Sie leben nach Siebold vor allem in den Städten in abgeschlossenen Quartieren, wo sie mit den Anwohnern eine große Familie bilden. Die Straßenhunde haben keinen bestimmten Besitzer, sie gehören allen Leuten des Viertels. Zu ihren Aufgaben gehört es, nachts das Quartier zu bewachen. Von den Menschen sind sie auch deshalb gern gesehen, weil sie die Abfälle beseitigen und so für Sauberkeit sorgen. Diese Hunde sind nur zum Teil domestiziert und leben sehr unabhängig. Sie können auch zur Plage werden, wenn sie nachts marodierend durch die Straßen streifen und Hausvieh wie Hühner, Schweine und Ziegen angreifen.

Dieses Bild der japanischen Straßenhunde entspricht bis in Einzelheiten der Beschreibung von Alfred Brehm, die er in seinem "Thierleben" von den Straßenhunden in Kairo und Konstantinopel liefert. Der berühmte Naturforscher beobachtete diese Hunde um 1847 während seiner Reise nach Ägypten und in den Vorderen Orient, also nur etwa 20 Jahre nach Siebolds Aufenthalt in Japan. Während Siebold die Straßenhunde als "Arme" und "Bettler" (pauvres, mendiants) charakterisiert, bezeichnet Brehm sie einprägsam als Pariahunde.

Pariahunde

Der Begriff Pariahunde stammt nach Brehm von den Engländern, die ihn von den Parias, den Menschen der untersten sozialen Schicht in der indischen Gesellschaft, auf die herrenlosen Hunde in den Städten übertragen hatten. Diese Hunde lebten ähnlich wie die Verbannten der Kaste am Rande der Gemeinschaft, aber immer in Kontakt und Abhängigkeit von den Menschen. In unserer Zeit trifft man solche Hunde noch im Süden und Osten Europas an, ferner in großer Anzahl in Südost-Asien (Bali Street Dog).

Inzwischen ist der Begriff Pariahund fest in der Kynologie etabliert, Pariahunde sind ein wichtiger Gegenstand der Forschung. Die Trennung des Hundes vom Wolf und die Entstehung des Haushundes dauerte fast 100.000 Jahre. In dieser langen Zeit muß es Übergangsformen gegeben haben, Hunde, die nicht mehr ganz wild, aber auch noch nicht domestiziert waren. Die heutigen Wild- oder Pariahunde werden als diejenige Gruppe von Hunden angesehen, die uns Aufschlüsse über die allmähliche Loslösung des Hundes vom Wolf geben könnte. [17]

Als Pariahunde bezeichnet man heutzutage auch die eingangs erwähnten Rassen Dingo, Carolina Dog und Korea Jindo sowie die von der FCI gleichfalls als "ursprüngliche Rassen" klassifizierten Basenji und Kanaan-Hund und weitere Rassen in der Sektion 6. Der Begriff hat also nichts Despektierliches mehr an sich, er verweist im Gegenteil auf außergewöhnliche Rassen mit einer sehr langen Entwicklungsgeschichte.

Als Pariahunde gelten heutzutage schließlich auch Wildhunde wie der Australian Dingo oder der New Guinea Singing Dog. Vielen Paria- oder Wildhunden ist gemeinsam, daß sie bei allen äußerlichen Unterschieden gewisse Züge vom Wolf haben, zum Beispiel nicht richtig bellen (auch wenn sie es können), sondern sich durch Heulen verständigen. Bei der in Japan entbrannten Debatte, ob der Jamainu noch ein Wolf oder bereits ein Hund gewesen sei, besteht die Antwort vielleicht darin, daß er weder ein Haushund noch ein Wolf, sondern ein Wildhund, ein Pariahund war. Vielleicht hat Siebold unbewußt das richtige Wort gewählt, wenn er in seiner Beschreibung den "loup du Japon", den Wolf Japans, gleichzeitig auch einen "chien sauvage", einen Wildhund nennt. Und offenbar war auch der von Siebold erwähnte Berghund Ookame, den die Japaner selbst als eine Spezies zwischen Wolf und Hund bezeichneten, ein solcher Wildhund.

Die Mehrheit der japanischen Gelehrten tendiert zu der Ansicht, daß der Japanische Wolf ein echter Wolf gewesen war und kein Hund. Nach Durchsicht der Quellen erscheint uns allerdings letzteres plausibler. Sicheren Aufschluß wird man indes erst von einer DNA-Analyse erwarten können. In Japan hat die Erforschung des Wolfs mit modernen Methoden gerade erst begonnen. Es liegt bereits eine Studie vor, die den Schädel des Akita Inu mit dem des Japanischen Wolfs mittels Computertomographie vergleicht. [18] Und 2002 hat eine Gruppe von Wissenschaftlern der Universität Tokio ein Gen von einem ausgestopften Japanischen Wolf extrahiert und zum ersten Mal eine Gen-Analyse des Zellkerns durchgeführt. [19] Man darf gespannt sein, wann das Rätsel über die Identität des Japanischen Wolfs gelöst ist.

Die Ausrottung des Japanischen Wolfs

Anders als in Europa war das Verhältnis der Japaner zu ihren Wölfen von Respekt, ja Ehrfurcht geprägt. Eine Wolfshatz zum bloßen Vergnügen und Zeitvertreib des russischen Landadels, wie sie Tolstoj in seinem Roman "Krieg und Frieden" beschreibt, wäre in Japan nicht vorstellbar gewesen. [20]

Gleichwohl wurde auch in Japan der Wolf zunehmend verfolgt und schließlich systematisch ausgerottet. Dafür gab es mehrere Ursachen, sie hingen mit der Öffnung Japans zum Westen und dem Verlust der Traditionen zusammen. Zunächst waren Wölfe als Überträger von Tollwut und Staupe, die sie sich von importierten europäischen Hunden zugezogen hatten, in Erscheinung getreten. Später gefährdeten die Wölfe gelegentlich die neu aufgekommene Pferdezucht auf Weiden, so daß die Züchter auf der Insel Hokkaido nach amerikanischer Empfehlung Fallen verwendeten (Bild) und mit Strychnin vergiftete Köder auslegten. Unterstützt vom Kaiserhaus wurden schließlich Prämien für getötete Wölfe ausgesetzt, woraufhin sich professionelle Wolfsjäger etablierten. Selbst die Ainu, die Ureinwohner von Hokkaido, die ihre Herkunft vom Wolf ableiten, beteiligten sich an dem Feldzug gegen den Wolf.

1889 war der Hokkaido Wolf durch die Farmer und Züchter der Nordinsel ausgerottet, 1905 starben die letzten Honshu Wölfe infolge einer Tollwut-Epidemie. Übriggeblieben sind von Japanischen Wolf nur ein paar Schädel sowie fünf ausgestopfte Exemplare in Japan, Holland und im Britischen Museum in London.

Seitdem der Japanische Wolf ausgerottet ist, sind im Land immer wieder Stimmen von Geistersehern laut geworden, die einen überlebenden Wolf in abgelegenen Bergregionen gesichtet haben wollen. Auch sind es in letzter Zeit wiederholt Projekte zur Wiederansiedlung des Wolfs durch importierte Populationen angekündigt worden. All dies kann man als eine Art nationalen schlechten Gewissens gegenüber dem ausgerotteten Wolf interpretieren. Nachdem die ökologischen Voraussetzungen im dichtbesiedelten Japan für wildlebende Wölfe nicht mehr gegeben sind, sind alle Pläne, den Wolf wieder heimisch zu machen, zum Scheitern verurteilt.

top   Die Wiederbelebung des Japanischen Wolfs: der Jomon Shiba 

In der Geschichte der Kynologie gibt es bisweilen Glücksfälle, durch die eine eigentlich ausgestorbene Rasse wieder zum Leben erweckt wird. Ein solcher Glücksfall trat 1930 ein, als die aus Wien emigrierte Hundeforscherin Rudolphina Menzel in Palästina aus Pariahunden den Kanaan-Hund nachzüchtete. Inzwischen gehört der Kanaan-Hund zu den von der FCI anerkannten ursprünglichen Hunden (Sektion 6). Etwas Vergleichbares ereignete sich – außerhalb kaum registriert – in jüngster Zeit auch in Japan.

Wenn es heutzutage noch ein Nachleben des Japanischen Wolfs gibt, so ist dies dem Engagement japanischer Hundezüchter zu verdanken. Diese Züchter haben sich 1959 in der "Gesellschaft für den Erhalt des Shiba-Hundes", japanisch "Shiba Inu Hozonkai" (abgekürzt SHIBAHO) mit dem Ziel zusammengeschlossen, den sog. Jomon Shiba zu züchten. [21]

Als Vorbild für den Jomon Shiba diente der Jomon-Hund, der vor etwa 8.000 Jahren von Süd-China aus über Taiwan und die Ryukyu-Inseln nach Japan gelangte. Der Jomon-Hund ist neben dem vor etwa 1.700 Jahren aus Korea eingewanderten Yayoi-Hund der Stammvater der heutigen japanischen Hunde. Er hatte in etwa die Statur des heutigen Shibas, während der Yayoi-Hund etwas größer war.

Während in Europa und Amerika immer nur von dem Shiba gesprochen wird, unterscheidet man in Japan sehr genau zwischen vier lokalen Shiba-Varietäten, benannt nach den Regionen, aus denen sie stammen: den Shinshu Shiba (heute über ganz Japan verteilt); den Mino Shiba, den San'in Shiba und den Akita Shiba aus der gleichnamigen Präfektur, aus der auch der Akita Inu stammt. [22] Der Akita Shiba ist eine Kreuzung zwischen dem Shinshu Shiba und anderen lokalen Shiba-Populationen. Von diesem Akita Shiba ausgehend haben die japanischen Hundefreunde den Jomon Shiba nachgezüchtet. Sie orientierten sich dabei an Rekonstruktionen des Jomon-Hundes aus Grabfunden. Um sich eine Vorstellung machen zu können, wie gut die Nachzucht gelungen ist, haben wir im folgenden Bild ein Foto eines Jomon Shibas neben eine Rekonstruktion des historischen Jomon-Hundes gestellt.

Bemerkenswert ist, daß die SHIBAHO-Züchter nicht einfach nur den historischen Jomon-Hund wieder präsent machen wollen. Ihr Ziel ist es darüber hinaus, sowohl in der äußeren Form als auch im Wesen an den Japanischen Wolf anzuknüpfen. [23] Nach den spärlichen Zeugnissen, die uns zugänglich sind, ist der Jomon Shiba viel temperamentvoller, "wilder" als der uns bekannte Shiba Inu. Und was die äußerliche Ähnlichkeit mit dem Japanischen Wolf betrifft, so möge man nach dem folgenden Bild urteilen, in dem wir einen Jomon Shiba zum Vergleich neben Siebolds Bild des Japanischen Wolfs gestellt haben.

Besondere Aufmerksamkeit widmen die SHIBAHO-Züchter dem Stop des Jomon Shibas. Ein Diskussionspunkt bei der Kontroverse um die Identität des Japanischen Wolfs ist der Stop, der für eine Wolfsspezies ziemlich flach ist. Auf dem Bild links sieht man den Schädel eines Japanischen Wolfs mit dem flachen Stop (Pfeil), darüber den Schädel eines nordamerikanischen Wolfs. Ungeachtet der Frage nun, ob der Japanische Wolf tatsächlich ein Wolf ist oder doch ein Wildhund, haben die SHIBAHO-Leute genau diesen flachen Stop nachgezüchtet. Sie setzen sich damit bewußt gegen den etwas höheren Stop des "normalen" Shibas ab, der in ihren Augen eine Anpassung an den westlichen Geschmack, eine Verniedlichung darstellt.

Der Begriff Jomon-Hund umfaßt zwei unterschiedliche Populationen, einen Hund aus der frühen Jomon-Kultur mit einem flachen Stop und einen zweiten aus der späteren Yayoi-Kultur mit einem höheren Stop. An Schädelfunden aus den beiden verschiedenen Epochen ist dieser Unterschied gut erkennbar. Auf dem Bild links haben wir zwei solche unterschiedliche Schädel von Jomon-Hunden den Schädelformen des heutigen Shibas gegenübergestellt. Wenn die Perspektive nicht völlig täuscht, kommt die korrekte Linienführung beim Shiba der Linienführung am Schädel des Jomon-Hundes aus der Spätzeit nahe. Die Linienführung des Schädels eines Jomon-Hundes aus der früheren Epoche gleicht dagegen eher einem Shiba-Schädel, der nach Maßgabe des Standards zu flach wäre.

Der flachere Stop in Anlehnung an den älteren Jomon-Hund und den Japanischen Wolf soll nach den Vorstellungen der Nachzüchter dem Jomon Shiba einen mehr wolfsähnlichen Ausdruck verleihen. Der Jomon Shiba vereint Merkmale des historischen Jomon-Hundes, des Japanischen Wolfs und des heutigen Shiba Inus – vielleicht ein weiteres Indiz für die These, daß sich der Japanische Wolf frühzeitig mit den ursprünglichen japanischen Hunden vermischte.

top   Ein Blick nach vorn 

Unsere kleine Zeitreise zu den Ursprüngen von Wolf und Hund ist beendet. Dank neuer Ergebnisse der DNA-Forschung wissen wir jetzt, daß die japanischen Hunderassen nicht einen einzigen gemeinsamen Ursprung haben, sondern auf mehrere asiatische Vorfahren (Wölfe wie Caniden) zurückgehen, die zu verschiedenen Zeiten und auf verschiedenen Wegen (Ferner Osten, China, Korea) nach Japan gelangten. Einen japanischen "Urhund" gibt es nicht, der Japanische Wolf spielte bei der Genese der japanischen Hunde vielleicht in der Frühphase eine Rolle. Und auch der Canis familiaris japonicus ist höchstens ein neuerer Verwandter der sechs japanischen Rassen.

Nach Prof. Tanabe [24] lassen sich die Hunde Japans und der angrenzenden nordost-asiatischen Region genetisch in drei Gruppen aufteilen:

  • eine Gruppe "A" mit dem Hokkaido und dem Ryukyu.
  • eine Gruppe "B" mit dem San'in Shiba und dem japanischen Tsushima, koreanischen Rassen und Hunden aus Sachalin.
  • und die Gruppe "C" mit dem Akita, Kai, Kishu, Mikawa, Shikoku, Satsuma und dem Shinshu Shiba sowie Mino Shiba.

Genetisch relativ konstant geblieben sind die Hunde der Gruppe "A", das sind die Nachkommen der frühen Jomon-Hunde. Die Hunde der Gruppe "B" sind Nachkommen der späten Jomon- bzw. Yayoi-Hunde, die sich dann ab dem 8. Jahrhundert unserer Zeit mit den frühen Jomon-Hunden vermischten. Die Hunde der Gruppe "C" schließlich haben sich durch Vermischung (Hybridisation) am stärksten gegenüber den Jomon-Hunden verändert.

Wie man sieht, verteilt sich der Shiba in seinen drei Varietäten auf zwei unterschiedliche genetische Gruppen, er ist, wenn man so sagen kann, nicht nur ein ursprünglicher, sondern sogar ein "doppelt-ursprünglicher" Hund. Entscheidend aber bleibt, daß der Shiba zusammen mit den anderen japanische Hunden und eng verwandten Rassen aus Korea eine genetisch klar nachweisbare Basis hat. Insofern macht es Sinn, den Shiba mit dem Begriff "ursprünglich" zu kennzeichnen.

Wir hoffen, einige unklare Begriffe und vage Vorstellungen deutlicher konturiert zu haben. Wir sind aber auch auf neue Fragen gestoßen, die noch nicht zufriedenstellend beantwortet sind. So hätten wir gerne das Rätsel um die Identität des Japanischen Wolfs aufgeklärt. Oder was hat es mit dem geheimnisvollen Ookame, dem Wildhund aus den Bergen Japans, auf sich? [25] Wir wüßten auch gerne Näheres über den Kari-Inu, den japanischen Jagdhund, den Siebold erwähnt. Und auch die aktuelle Situation in Japan ist widersprüchlich: Ist der Akita Shiba eine genuine Variante neben den drei anderen bekannten Shiba-Populationen und warum haben die Nachzüchter des Jomon Shibas gerade diesen Shiba aus der Präfektur Akita als Ausgangspunkt gewählt?

Hunde sind ein untrennbarer Bestandteil der kulturellen Entwicklung des Menschen. Von daher gibt jede Beschäftigung mit der Historie des Hundes auch Aufschlüsse über uns selbst, sie hilft, unsere eigene Vergangenheit und Gegenwart besser zu verstehen. Die wissenschaftliche Erforschung des Hundes mit den Mitteln der DNA-Analyse dient in letzter Zeit immer mehr auch dem besseren Verständnis genetisch bedingter Krankheiten beim Menschen. In der Forschung Japans nimmt der Shiba dabei eine besondere Position ein. Als Beispiel möchten wir ein Projekt an der Hokkaido University nennen, bei dem anhand von Shibas eine schwere Erbkrankheit mit Namen GM1-Gangliosidose erforscht wird. [26] Diese Krankheit trifft Mensch wie Tier, sie befällt das Zentralnervensystem (Gehirn) und endet schnell tödlich.

Mit Hilfe der DNA-Analyse und anderer Methoden der modernen Molekularbiologie dürfen wir auch in Zukunft Antworten auf manch offene Fragen erwarten, und unsere Hunde tragen ihren Teil dazu bei.

Anmerkungen
[1] Vila C., Maldonado J. E., Wayne R. K.: Phylogenetic relationships, evolution, and genetic diversity of the domestic dog, in: Journal of Heredity 90 (1999), S. 71-77.
[2] Vila C., Savolainen P., Maldonado J. E., Amorim I. R., Rice J. E., Honeycutt R. L., Crandall K. A., Lundeberg J., Wayne R. K.: Multiple and ancient origins of the domestic dog, in: Science 276 (1997), S. 1687-1689.
[3] Savolainen P., Zhang Y. P., Luo J., Lundeberg J., Leitner T.: Genetic evidence for an East Asian origin of domestic dogs, in: Science 298 (2002), S. 1610-1613.
[4] Y. Tanabe, K. Ôta, S. Ito, Y. Hashimoto, Y. Y. Sung, J. K. Ryu and M. O. Faruque: Biochemical-genetic relationships among Asian and European dogs and the ancestry of the Japanese native dog, in: Journal of Animal Breeding and Genetics, Vol. 108, S. 455-478 (1991) und Yuichi Tanabe: The origin of Japanese dogs and their association with Japanese people, in: Zoological Science, Vol. 8, No. 4 (1991), S. 639-651.–
Auch wenn Tanabes Studie nicht auf einer mtDNA-Analyse der rein mütterlicherseits vererbten Gene beruht und so einige Unsicherheitsfaktoren eingeflossen sind, sind seine Ergebnisse weitgehend akzeptiert worden.
[5] Okumura N., Ishiguro N., Nakano M., Matsui A., Sahara M.: Intra- and interbreed genetic variations of mitochondrial DNA major non coding regions in Japanese native dog breeds (Canis Familiaris), in: Animal Genetics 27 (1996), S. 397-405.
[6] Kim K. S., Tanabe Y., Park C. K., Ha J. H.: Genetic Variability in East Asian Dogs Using Microsatellite Loci Analysis, in: Journal of Heredity 92 (2001), S. 398-403.
[7] Die geringste genetische Variabilität wies der Shiba auf. Dies ist nicht unbedingt ein Ruhmesblatt (besonders "reinrassig"), sondern deutet eher auf eine relative Genarmut durch Inzucht hin.
[8] Tsuda K., Kikkawa Y., Yonekawa H., Tanabe Y.: Extensive interbreeding occurred among multiple matriarchal ancestors during the domestication of dogs: Evidence from inter- and intraspecies polymorphisms in the D-loop region of mitochondrial DNA between dogs and wolves, in: Genes & Genetic System 72 (1997), S. 229-238.
[9] Eberhard Trumler: Das Jahr des Hundes. Ein Jahr im Leben einer Hundefamilie, München 1986, S. 7.
[10] Heidi G. Parker, Lisa V. Kim, Nathan B. Sutter, Scott Carlson, Travis D. Lorentzen, Tiffany B. Malek, Gary S. Johnson, Hawkins B. DeFrance, Elaine A. Ostrander, Leonid Kruglyak: Genetic Structure of the Purebred Domestic Dog, in: Science 304 (2004), S. 1160-1164.
[11] Leonard J. A., Wayne R. K., Wheeler J., Valadez R., Guillen S., Vila C.: Ancient DNA evidence for Old World origin of New World dogs, in: Science 298 (2002), S. 1613-1616.
[12] Die folgenden Bemerkungen über den Wolf in der Kultur Japans stützen sich auf John Knight: On the Extinction of the Japanese Wolf, in: Asian Folklore Studies, 56/1, 1997, S. 129-159. Siehe auch John Knight: Waiting for Wolves in Japan: An Anthropological Study of People-Wildlife Relations, Oxford University Press 2003.–
Knight hat in Japan intensive Forschungen zum Wolf betrieben und zitiert aus japanischen Quellen.
[13] Ph. Fr. de Siebold (in Zusammenarbeit mit C. J. Temminck und H. Schlegel): Fauna Japonica, Lugduni Batavorum 1842, S. 38f. Der richtige Name des Autors war eigentlich Franz Philipp Balthasar von Siebold. Er lebte von 1796 bis 1866.–
Man muß stets bedenken, daß Siebold nur den Wolf von der Hauptinsel Honshu und nicht den Hokkaido Wolf beschreibt.
[14] Zur Kontroverse über die Identität des Wolfs siehe Brett L. Walker: The History and Ecology of the Extinction of the Japanese Wolf, in: The Japan Foundation Newsletter XXIX/No. 1, October 2001, S. 10-13.–
Auch Walker hat in Japan Forschungen zum Wolf durchgeführt und zitiert gleichfalls aus japanischen Originaldokumenten.
[15] Tsuda et al., Extensive interbreeding [Anm. 8].
[16] Maureen Atkinson: The Complete Shiba Inu, Ringbress Books 1998, S. 8.
[17] Siehe Erhard Oeser: Hund und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 2004, S. 58ff.–
Ein schönes Beispiel eines Pariahundes im kynologischen Sinne ist die Geschichte vom Halbwolf White Fang und seiner Mutter Kiche in Jack Londons berühmter gleichnamiger Erzählung von 1906 ("White Fang", dt. "Wolfsblut").
[18] Endo H., Obara I., Yoshida T., Kurohmaru M., Hayashi Y., Suzuki N.: Osteometrical and CT examination of the Japanese wolf skull, in: The Journal of Veterinary Medical Science 59 (1997), S. 531-538.
[19] Chikashi Tachi, Tomoya Enomoto, Yu Matsubara, Ai Ueda, Teppei Hasegawa, Junichi Matsuyama, Masato Tsuchiya, Mitsuaki Ohta, Yuichi Tanabe, Tatsuo Suzuki , Hideki Endo, Tadasu K. Yamada, Masamichi Kurohmaru, Yoshihiro Hayashi, Yumi Asano, Keitaro Yamanouchi, Hideaki Tojo: Successful Molecular Cloning and Nucleotide Sequence Determination of Partial Amelogenin (AMELX) Exon DNA Fragment Recovered from a Mounted Taxidermic Pelt Specimen Tentatively Identified as an Extinct Wolf Species, Canis lupus hodophilax Temminck, the Japanese Wolf and Stocked at School of Agriculture and Life Sciences, the University of Tokyo, Journal of Reproduction and Development, Vol. 48 (2002), S. 633-638.
Das Resultat dieser Studie ist "daß eine weitere Analyse sowohl der intra- als auch interspezifischen Variationen in der AMELX DNA notwendig ist, um eindeutigen Aufschluß über die taxonomische und phylogenetische Position des Japanischen Wolfs zu gewinnen".
[20] Das Ende der Hetzjagd schildert Tolstoj mit diesen Worten: "Nun kamen alle herangeritten, um den Wolf anzuschauen, der seinen breiten Kopf sinken ließ und mit großen glasigen Augen auf die Menge von Hunden und Menschen starrte, die ihn umringten. Wenn ihn einer berührte, zuckte er mit den Beinen und sah alle wild und verzweifelt an." (Krieg und Frieden, Buch Sieben, Kapitel V).
[21] Heutzutage ist also zu unterscheiden zwischen 1) der bekannten "Gesellschaft für den Erhalt der japanischen Hunde", japanisch "Nippon Inu Hozonkai" bzw. "Nihoken Hozonkai" (abgekürzt NIPPO) von 1928, die sich der Pflege des Shibas und der anderen japanischen Hunde angenommen hat; und 2) eben der neuen "Gesellschaft für den Erhalt des Shiba-Hundes", japanisch "Shiba Inu Hozonkai" (abgekürzt SHIBAHO) von 1959, die sich allein dem Jomon Shiba widmet.
[22] Die Informationen aus Japan sind unklar: Prof. Tanabe spricht in seiner Studie von 1991 [Anm. 4] von vier lokalen Shiba-Varietäten, darunter den "Akita Shiba". In späteren Veröffentlichungen spricht er nur noch vom "Jomon Shiba". Andere japanische Autoren bleiben dagegen bei den drei bekannten Shiba-Varianten San'in, Mino und Shinshu.
[23] Siehe Michiko Chiba, Yuichi Tanabe, Takashi Tojo, Tsutomu Muraoka: Japanese Dogs. Akita, Shiba, and Other Breeds, Kodansha International, Tokyo, New York, London 2003, S. 72.
[24] Yuichi Tanabe: Genetic Evidence for the Routes Dogs Took to Japan, in: Japanese Dogs [Anm. 23], S. 66-69.
[25] Möglicherweise ist der Name Ookame nur eine regionale Variante von okami, dem Japanischen Wort für Wolf; zu den japanischen Namesvariationen für den Wolf vgl. John Knight: Waiting for Wolves in Japan [Anm 12], S. 195.
[26] Yamato O., Masuoka Y., Yonemura M., Hatakeyama A., Satoh H., Kobayashi A., Nakayama M., Asano T., Shoda T., Yamasaki M., Ochiai K., Umemura T., Maede Y.: Clinical and clinico-pathologic characteristics of Shiba dogs with a deficiency of lysosomal acid β-galactosidase: a canine model of human GM1 gangliosidosis, in: The Journal of Veterinary Medical Science 65 (2003), S. 213-217. Ferner eine ganze Reihe weiterer Artikel dieser Forschergruppe zum selben Thema.

© 2005 Dr. Holger Funk

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